Montag, 24. August 2015

"In drei Monaten war er vielleicht zwei Tage nüchtern."

Im letzten Post habe ich gesagt, dass ich ein paar der Frauenschicksale hier aufschreiben möchte. Schicksal Nummer 2: Dieses Mal geht es um Walerija. Auch mit ihr komme ich tiefer ins Gespräch, als wir über Gefängnisse reden. Der Mann ihrer Tante sei auch im Gefängnis, weil er - interessanterweise wie bei Elisaweta - bei einer Schlägerei jemanden so stark gehauen hat, dass der nicht mehr aufwachte.

Heruntergekommene Siedlung auf Sachalin mitten zwischen wunderschönen grünen Bergen und dem Meer (hat nichts mit der Geschichte zu tun).
Ich möchte übrigens mit diesen traurigen Geschichten auf keinen Fall Russland schlechtreden. Es gibt auch in Deutschland oder der Schweiz genügend Fälle von alkoholisierten Männern, häuslicher Gewalt und so weiter, und ich kenne auch aus meinem engeren Kreis einige üble Geschichten. Nur verkehre ich in meinen Heimatländern weniger in Segmenten, die anfälliger für Gewalt, Not und Gefängnis sind. Außerdem kann ich diese Geschichten hier schlecht erzählen, ohne dass die Gefahr besteht, dass man jemanden identifizieren könnte.

Auch hier habe ich einige für die Essenz der Geschichte unwichtige Details geändert, damit keine Gefahr besteht, dass doch jemand herausfindet, um wen es geht.

Walerija hat seit ein paar Jahren einen guten Job in Chabarowsk und wirkt sehr aufgeweckt, sie spricht sogar fantastisches Spanisch. Eigentlich stammt sie aus einer kleinen Stadt ganz im Norden Russlands. Ihren Sohn hat sie in jungem Alter mit einer Affäre gezeugt, die Affäre wollte von vornherein nichts Langfristiges, und so war Walerija mit 20 alleinerziehende Mutter, musste ihr Studium unterbrechen und arbeiten, um Geld zu verdienen. Das Studium hat sie später abgeschlossen und einen zweiten Mann kennengelernt, mit dem sie dann mehrere Jahre zusammen war, seit ein paar Jahren aber sei es eine On- and Off-Beziehung. Sie hat sichtlich zugenommen und ist heute kugelrund. Sie befürchtet, das sei der Grund, weshalb er sich zurückziehe.

Ihr Vater war ein großer, starker Mann und Eishockeyprofi. Er soll ein lebenslustiger und umgänglicher Mann in seinen jungen Jahren gewesen sein. Als seine Profikarriere zu Ende geht, bekommt er einen guten Job als Jugendtrainer angeboten. Aus einem für Walerija unbekannten Grund lehnt er diesen Job ab, und die große Leere nach den Jahren des Ruhms trifft ihn hart. Er beginnt zu trinken. Immer mehr und immer wieder. Und erreicht regelmäßig Zustände, bei denen er am nächsten Tag nicht mehr weiß, was er gestern getan hat. "Er hat am nächsten Morgen oft gesagt: 'Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was gestern war, also reden wir nicht darüber.'"

An den meisten der alten Holzhäuser hängen Zettel, die den Inhaber darüber informieren, dass er demnächst "umgesiedelt" werde inklusive Adresse seines neues Hauses (hat auch nichts mit der Geschichte zu tun, aber sonst wäre es so eine Textwüste...:)). [Das ist keine Russlandkritik, denn das gab und gibt es in Deutschland ebenfalls zuhauf - derzeit vor allem in den Braunkohleabbaugebieten, wo ganze Dörfer plattgemacht werden]
"Ich habe mal die Tage gezählt, an denen er nüchtern war. In drei Monaten waren das zwei Tage", erinnert sie sich. Und wenn er trank, dann wurde er oft wütend und aggressiv. Er wurde dann handgreiflich und verprügelte die einzige Tochter, beschimpfte sie, sie sei ein Fluch, eigentlich habe er doch einen Jungen gewollt und so weiter. Die Mutter habe er allerdings nie angerührt, immer nur die Tochter.

"Warum habt ihr nicht die Polizei geholt?", frage ich. "Die Polizei hält sich bei Familienstreitigkeiten lieber raus. Und das Maximum, das sie machen können in so einem Fall, ist, den Mann 48 Stunden lang auf der Wache festzuhalten. Wir hatten auch Angst, dass er von der Wache dann noch wütender zurückkommt. Wenn man mehr will, muss man vor Gericht gehen, und das wollten wir nicht," antwortet sie.

Walerija habe immer wieder versucht, die Mutter dazu zu bringen, sich vom Vater scheiden zu lassen, ganz besonders, als Walerija dann schwanger war und den Sohn mangels Mann und eigener Wohnung zunächst bei den Eltern im Haus aufziehen wollte - natürlich ohne den Alkoholiker-Vater. Sie wollte auf keinen Fall, dass ihr eigener Sohn so etwas erleben müsse. Die Mutter aber habe dem Vater immer und immer wieder eine letzte Chance geben wollen. "Es gab 27 Billionen 'letzte Chancen'!"

Der Vater habe durch sein aggressives Verhalten und dauernde Trunkenheit alle seine Freunde verloren. Ob die Mutter sich dann letztlich scheiden ließ, habe ich vergessen.

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"Gefängnis" heißt auf Russisch übrigens "Tjurma" (wahrscheinlich wie viele andere russische Wörter aus dem Deutschen von "Turm" kopiert). Ich stelle mir da immer einen großen Turm vor, in dem da ganz unten dann angekettet ein traurig dreinblickender Verbrecher auf dem Stroh hockt.

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