Mittwoch, 19. August 2015

"Und wohin fahrt ihr?" - "Ins Gefängnis."

Im 24-Stunden-Zug von Chabarowsk nach Sowjetskaja Gawan (deutsch: "Sowjetischer Hafen") in meinem viel zu kurzen "Schlafregal" im "Platskartnyj"-Waggon direkt neben der Toilette (wo nicht nur in deutschen Zügen gerne heimlich geraucht wird, was man dann im Bett angenehm riechen kann) beginnt das 16-Jährige Mädchen aus dem Bett schräg unter mir mit mir zu sprechen. Sie will ihr iPhone aufladen und sucht eine Steckdose. Ich zeige ihr die einzige funktionierende Steckdose in unserer Umgebung im nächsten Waggon neben der Toilette. Es stellt sich heraus, dass ihr Ladekabel auch kaputt ist. Ich leihe ihr meines, wir kommen ins Gespräch.



Sie reist mit dem Opa und der Tante. Wohin sie fahren, frage ich. "Ins Gefängnis." - "Ins Gefängnis?" - "Mein Papa sitzt dort." Wir reden über dies und jenes. Zwei Tage später treffe ich sie zufällig wieder, als ich auf dem Bahnhof in Wanino auf meinen Bus zur Fähre nach Sachalin warte. Sie wartet mit Tante und Opa derweil auf den Zug zurück in ihre kleine Stadt am Amur. Sie setzt sich zu mir, Opa und Tante scheinen mir zu vertrauen und gehen derweil eine halbe Stunde nach draußen, um sich die Füße zu vertreten.

"Als wir gehört haben, dass der Papa jetzt in ein Gefängnis in unserer Nähe (14 Stunden Zugfahrt) versetzt worden ist, sind wir gleich hergefahren."
"Wie es war beim Papa?", frage ich. Sie meint, es sei schön gewesen, ihn zu sehen und dass es ihm gutgehe. Sie hätten im Gefängnis mit ihm in einem Zimmer übernachten dürfen. Nur morgens sei es etwas unangenehm gewesen. Um 6 Uhr kam per Lautsprecherdurchsage der Befehl, dass sich die Gefangenen versammeln sollen. Das sei sehr laut gewesen. Dann wurden sie abgezählt. Aber sie seien ja total froh, dass er nach zwei Jahren im fernen Krasnojarsk (dort konnte sie ihn gar nicht besuchen) nun nach Sowjetskaja Gawan versetzt wurde, was ja "nur noch" 14 Stunden mit dem Zug entfernt liege. Daher haben sie ihn gleich besucht, als sie von der Versetzung erfahren hatten.

"Wie lange muss der Papa noch sitzen?" - "Noch sieben Jahre. Zwei Jahre hat er ja schon hinter sich."

Früher hat sie mit dem Papa gelebt, die Eltern sind schon länger geschieden. Als der Vater ins Gefängnis kam, musste sie zur Mutter - da gefällt es ihr überhaupt nicht. Generell sei es für sie sehr schwer ohne ihren Papa, er fehle ihr so. Jetzt ist sie mit der Schule fertig und muss sich entscheiden, ob sie auf die Uni will oder auf eine Art Berufsschule ("College"). Ich schenke ihr noch mein russisch-englisches Mark-Twain-Buch und sage ihr, sie solle auf jeden Fall gut weiter Englisch lernen (ein paar Worte hatten wir auch auf Englisch gewechselt, und ihr Englisch war gar nicht so schlecht).

"Weißt du, was der Papa gemacht hat, dass er so lange sitzen muss?" - "Ich weiß es nicht. Er will mit mir nicht darüber reden."

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