Mittwoch, 23. September 2015

1.000 Dollar am Tag für einen Tag im Donbass - Sanktionen und Ukraine-Krieg im Alltag

In Russland gelten ja seit einiger Zeit Sanktionen der USA, der Europäischen Union und anderen Staaten wegen der russischen Besetzung und Annexion der Krim und der militärischen Einmischung in der Ost-Ukraine. Im Westen lautet die herrschende Meinung, dass dort auch russische Soldaten am Werk sind, dass Russland die vom Westen "Separatisten" genannten ostukrainischen Soldaten mit Waffen und Waren versorgt und dass die dortigen Regierungen wenig mehr als Kreml-Marionetten sind. In Russland bestreiten viele Leute das jedoch. Manche glauben auch zum Beispiel nicht, dass russische Soldaten in der Ukraine sind und beharren darauf, dass sich dort lediglich ein "Bürgerkrieg" vollziehe.

Ich möchte mit dem Artikel hier nicht über den Ukrainekonflikt urteilen oder irgendeine Seite rechtfertigen. Mir geht es hier nur darum, die Meinungen der Leute zu dem Thema einzufangen. Das Urteil kann sich der Leser dann selbst bilden.

Der Ukrainekrieg spaltet Familien und Freundschaften
Der Krieg ist ein sehr emotionales Thema, daher habe ich darüber zugegebenermaßen nicht oft gesprochen (manche Russen drängen einem politisch-historische Themen aber geradezu missionarisch auf, wenn sie merken, dass man aus dem Westen kommt).

Ich spreche darüber auch nicht gern, weil ich letztes wie dieses Jahr (auch während meiner Reise) einige Freunde verloren habe nach heftigen Streiterein wegen des Krieges. Die Meinungen lagen letztlich so weit auseinander, dass es nicht mehr möglich war, diese Freundschaften aufrechtzuerhalten. Irgendwann entlud sich die Diskussion meist in einer Ladung von unterschwelligen oder direkten Beleidigungen und Geringschätzungen.

Einigen mir bekannten Ukrainern und Russen erging es ähnlich, und von der entzweiten Ehe auf der Krim habe ich ja neulich geschrieben. Man kann sich nur schwer vorstellen, wie viele Freundschaften und Familien dieser Krieg zerstört hat.
Bald sind Wahlen zu den Präsidenten und Gouverneure der Bundesstaaten, Wahlplakate wie hier in Irkutsk zeugen davon.
Nicht alle Russen glauben nur an einen "Bürgerkrieg"
Nun muss man natürlich differenzieren: Bei weitem nicht alle Russen glauben an einen "reinen inner-ukrainischen Bürgerkrieg". Ich habe selbst weitab vom Kriegsgeschehen im Fernen Osten Leute getroffen, die der Meinung waren, dass Russland sich dort auch mit eigenen Soldaten einmische. Eine Person meinte, sie wüsste das, da sie Freunde in der Ostukraine habe und mit ihnen in Kontakt stünde. Die Einmischung russischer Truppen geschehe der Meinung der meisten zufolge zwar nicht aus imperialistischen russischen Motiven, sondern aus dem Grund, dass man nun einmal die dortigen "Russen" vor dem ukrainischen "Faschismus"/Militär/etc. schützen müsse.

Es überraschte mich etwas, dass es überhaupt jemand allen Ernstes noch die offizielle Version glaubte, dass in der Ostukraine maximal russische Freiwillige kämpften. Hat doch sogar der Moskauer Igor Strelkow, ehemals Verteidigungsminister der "Donezker Volksrepublik" und Führer der separatistischen Truppen, selbst zugegeben, mit Truppen über die Grenze gezogen zu sein, um dort zu eskalieren. Zitat: "Den Krieg habe doch ich ausgelöst. Wenn unser Trupp nicht über die Grenze gegangen wäre, hätte das alles so geendet, wie in Odessa oder Charkiw. Es hätte ein paar Tote, Verbrannte, Verhaftete gegeben. Und das wäre es gewesen. Die jetzige Größenordnung hat der Krieg dank uns erreicht."

Warum sterben in letzter Zeit so viele russische Soldaten?
Eine andere Russin sagte, es gäbe in letzter Zeit immer häufiger auch im Fernen Osten Soldatenbegräbnisse (welche versteckt werden vor der Öffentlichkeit), aber niemand dürfe sagen, wie und wo diese Soldaten gestorben seien. Dieselbe Person bedauerte, dass lenta.ru, eine Website, auf der man sich habe recht neutral informieren können, mittlerweile von der russischen Regierung gleichgeschaltet worden sei, nachdem man die Chefredakteurin "entfernt" und durch einen Kreml-treuen Mann ersetzt hatte. Lenta.ru hatte ein Interview mit einem rechtsradikalen ukrainischen Nationalisten veröffentlicht. Die staatliche russische Medienregulierungsbehörde ging daher wegen "Veröffentlichung von extremistischem Material" gegen die Website vor. Die Person empfiehlt nun, stopfake.org zu lesen, wo gefälschte Nachrichten über die Ukraine aufgedeckt würden. (Ich empfehle zur Propagandamaschinerie diesen Artikel, in dem ehemalige Mitarbeiter des russischen Staatsfernsehens zu Wort kommen).

"Er ist ein Patriot. Deshalb will er das glauben."
Interessanterweise war der Partner dieser Russin ein flammender Vertreter der "In der Ukraine gibt es keine russischen Soldaten"-Theorie. Als ich die Person fragte, warum ihr Partner denn so auf seiner Meinung beharre, meinte sie: "Weil er ein Patriot ist. Er will einfach glauben, dass das wahr ist."

"Wir haben schon genug Land, wir brauchen nicht noch mehr."
Andere Personen verwiesen mich darauf, dass die angebliche Einmischung der russischen Soldaten ein Märchen der westlichen Medien und natürlich der USA sei, und dass Russland ja schon so groß sei, dass es absurd sei, zu denken, dass man noch mehr Land brauche: "Wir brauchen nicht noch mehr Land, wir haben mehr als genug davon", so ein 28-jähriger Bergsteiger.
Allerorten beliebt: UdSSR-Nostalgie
"Undankbare Polen"
Derselbe Mann war übrigens auch der Meinung, Tschechien, Polen und die anderen früher sozialistischen mittel- und osteuropäischen Länder seien "undankbar", denn wie er "von seinem kürzlich verstorbenen Großvater" wisse, seien Ende der 40er und in den 50ern in Sibirien so viele Menschen den Hungertod gestorben, weil man aus Solidarität mit den sozialistischen Bruderländern so viele Lebensmittel nach Polen & Co. geschickt habe, dass die eigene Bevölkerung kaum noch etwas zu essen hatte.

Generell, und das meinte nicht nur dieser recht patriotische junge Bergsteiger, sind in den Augen vieler Russen die USA verantwortlich für viele russische Probleme. "Die USA führen noch immer Krieg gegen Russland." Daher müsse Russland sich schützen. Auch der Krieg in der Ukraine sei allein von den USA provoziert worden. Doch jetzt habe man wieder eine sehr starke Armee und könne sich wieder verteidigen. Das koste aber natürlich viel Geld, das dann leider nicht immer für die ganze Bevölkerung da sei.

"Die USA macht Krieg und dann Russland verantwortlich dafür"
Eine belesene Touristenführerin in den 40ern aus dem Altai-Gebirge lud mich zum Tee in ihr improvisiertes Büro ein, das in einer Sauna eingerichtet werden musste, da sie ihr eigentliches Büro für Gäste freimachen musste. Sie und ihre Freundin schauten grad einen Krimi auf ihrem Laptop. Als ich fragte, was das für ein Krimi sei, begann sie zu schwärmen, das sei eine Krimiserie aus den 80ern, in der Geheimagenten der UdSSR versuchten, die miesen Tricks der Agenten aus den USA zu verhinden, und dass die sowjetischen Fernsehserien ja so schön seien.

Gut, denke ich, wenn ihr diese sowjetromantische Fiktion gefällt, ist ja kein Problem. Dann fährt sie fort: "Und was mir besonders gefällt, ist, dass die Situation von damals identisch ist mit heute: Die Russen wollen etwas Gutes tun, ein Verbrechen aufklären, einen Putsch verhindern. Doch dann setzen sich die Amis durch, weil sie einfach mehr Geld haben, und lassen die ganze Welt denken, Russland sei der Böse. Genau das ist doch jetzt wieder in der Ukraine passiert!"

Im Donbass für Russland kämpfen: 1.000 Dollar am Tag und Erlass der Gefängnisstrafe
Zurück zur angeblichen Mär der russischen Soldaten im Donbass (Ostukraine). Die russische Bekannte, deren Mann im Gefängnis sitzt, berichtete mir, dass man ihrem Mann vor ein paar Monaten angeboten hätte, im Donbass für Russland als Soldat zu kämpfen. Er bekäme dann die verbliebenen zwei Jahre seiner Gefängnisstrafe (Totschlag) erlassen und 1.000 Dollar Sold pro Tag. Sie habe sich entschieden dagegen ausgesprochen, daher habe er es letztlich gelassen. Viele andere in diesem Knast nähmen das Angebot aber an.
Leute warten im palastartigen, blitzsauberen Bahnhof von Nowosibirsk (hat nichts mit dem Thema zu tun...)
Im Donbass lässt sich gut verdienen
Auch sonst ließe sich im Donbass gut verdienen. Ein anderer Bekannter von der Krim hat Familie im Donbass, u.a. einen Onkel, der dort kämpft und eine Schwester, die als Krankenschwester dort arbeitet. Sie sei sogar freiwillig dorthin zurückgegangen. Die Schwester meine: "Wer nicht gerade stinkfaul ist, verdient hier sehr gut" - solange er auf der Seite der Separatisten sei. Das glaubt auch eine Bekannte aus Kiew, die meinte, die Kiewer mit Verwandten auf Seiten der Separatisten hätten auf einmal recht viel Geld und würden sich in Kiew Luxuswohnungen kaufen.

"Es war ein historischer Fehler, die Krim der Ukraine zu geben"
Wann immer die Krim ins Gespräch kommt, bekräftigen viele sofort reflexartig, dass das ja Russland sei und immer war. Als ich sage, dass die Krim vor kurzem ja noch der Ukraine gehörte, antwortet der 28-Jährige, das sei ein "großer historischer Fehler" gewesen. Von den wenigen Kontakten, die ich auf der Krim habe, sind übrigens zwei gegen die Annexion und deren Folgen und eine Person dafür.

"Wir haben nur genommen, was unser ist"
Eine 27-jährige studierte Journalistin aus Wladiwostok meinte auf die Frage, ob es denn generell okay sei, einfach eine Region zu besetzen und sie an sich zu reißen: "Wir haben uns lediglich genommen, was "unser" (nasche) ist." Von "nasche" abgeleitet ist übrigens das Wort "Krymnasch" (ugf. "Unsere Krim"): "Krymnaschy" werden spöttisch die übereifrigen russischen Nationalisten genannt, die genau zu wissen scheinen, was "ihres" ist und was anderen gehört.

Belarus, Ukraine, Russland - "gleiches 'Blut', gleiches Schicksal"
In Deutschland kennt man ja den Germanenkult, also die Idealisierung eines fiktiven Urzustandes, als alles noch gut, "rein" und friedlich gewesen sein soll. Die soeben genannte 27-jährige Journalistin (ihren Beruf hat sie derweil an den Nagel gehängt, alle Medien, in Ost wie West, würden eh nur lügen, und sie meide daher jegliche Medien) erzählte übrigens immer voller Begeisterung vom Kiewer Rus, der Wiege des modernen Russlands, und auch sie liebt die sowjetischen Filme über diese "gute, alte Zeit".

Idealisierung einer angeblichen Vergangenheit ist das eine. Schlimmer wird es, wenn man daraus Schlüsse für die Gegenwart ableitet: "Belarus, Ukraine und Russland - wir haben alle dasselbe Blut. Ich werde alles dafür tun, dass wir irgendwann wieder einmal zusammen sein können", meinte die Dame. "Blut und Boden 2.0", denke ich. Na dann wird's Zeit, dass Deutschland sich wieder die ganzen "germanischen" Völker mit dem "gleichen Blut" einverleibt, oder gleich "unsere" alten deutschen Gebiete, wo "wir" vertrieben wurden. Vielleicht zuerst die "Germanen" der Niederlande, oder vielleicht die Nordschweiz, oder vielleicht doch gleich Königsberg?

Wahlplakat in Jewpatorija (Krim) 2012 der russlandfreundlichen kommunistischen Partei, die kürzlich in der Ukraine verboten wurde: "Ukraine und Russland - dieselben Wurzeln... dieselbe Geschichte... derselbe Ruhm! Geben wir das Land den Leuten zurück!"
"Wer nicht zu Russland gehören will, ist ein 'Nationalist'"
Als ich einer Bekannten von der Krim das erzähle, kommentiert sie: "Manche Russen verstehen nicht, wie es sein kann, dass jemand nicht Teil von diesem riesigen, großartigen, starken Russland sein möchte. Wenn die Ukraine Teil von Russland sein möchte, dann schreien die Russen "Hurra", aber wenn die Ukrainer das nicht wollen, dann sind sie für die Russen 'Nationalisten'." Dass der größte Nationalismus der pan-russische Imperialismus sei, übersähen sie dabei gerne. "Die Krim-Bewohner freuen sich mehrheitlich tatsächlich, dass sie nun Teil Russlands seien, aber eigentlich empfänden die meisten das eher wie eine Rückkehr in die gute, alte Sowjetunion, die sie so vermisst haben. Doch diese Sowjetunion gibt es nicht mehr."

Groll gegen die Bevorzugung der Krim-Bewohner
Damit es den Krimbewohnern und Ostukrainern in Russland auch gleich gut gefällt, bekommen sie angeblich allerlei finanzielle Vorteile und Subventionen (von denen enorm viele in der Korruption versickern). Diese Subventionen und Vorteile finden manche Russen ungerechtfertigt.

Ein Taxifahrer im Altaigebirge behauptet zum Beispiel, wenn Ostukrainer hierherzögen, bekämen sie eine Arbeit und noch dazu Geld - einfach so (ob das stimmt, weiß ich nicht). Eine Frau in Nowosibirsk beschwerte sich darüber, dass nun wegen der Wirtschaftskrise eine Art Kindergeld nicht mehr bis zum 3. Lebensjahr gezahlt würde, sondern nur noch bis zum 18. Monat, und der Betrag sei im Vergleich zu früher läppisch. Manche Mütter dränge das in die Prostitution. Auf der Krim gäbe es aber noch den alten Betrag oder zumindest einen höheren Betrag pro Kind (auch das habe ich nicht überprüft, es geht mir hier wie gesagt nur darum, Meinungen der Leute zu sammeln). Daher würde sie am liebsten einfach schon deshalb auf die Krim ziehen.
Kriegsdenkmal in Simferopol (Krim)
"Kein französischer Käse mehr wegen der Sanktionen"
Eine offene Putin-Gegnerin und deren Freunde, die ich in [Stadt gestrichen, um Person zu schützen] kennengelernt habe, äußerten sich zum Krieg nicht, aber sie störten die Sanktionen. Sie liebten französischen Käse, den gäbe es nun nicht mehr, und der russische schmecke nach nichts und sei wie ein Stück Gummi. Die ganze Gruppe schien gar aus Putin-Gegnern zu bestehen.

Eine andere Frau aus Moskau bedauerte, dass Esprit dort nun geschlossen habe, dort habe sie sich immer gute Kleidung gekauft.

"Wir brauchen keine Importe, wir können alles selbst herstellen."
Dem oben genannten 28-jährigen Bergsteiger waren die Sanktionen völlig egal, er verstehe nicht, was es denn Sinnvolles aus dem Westen zu kaufen gäbe, Russland könne problemlos alles selbst herstellen, was es brauche, mit Ausnahme vielleicht von Handys und so Zeug, aber das käme ja eh aus Asien.

Ein einsamer, kleiner See in den Ausläufern des Altaigebirges
Investment-Fonds, die in Russland und Ukraine investierten, werden abgewickelt
Eine andere Frau Anfang 40 zeigte mir die andere Seite der Sanktionen und des Kriegs: Sie, geborene Russin, ist vor fünf Jahren zu ihrem englischen Mann nach London ausgewandert. Sie verwaltet dort zwei große Investment-Fonds, die noch vor dem Konflikt mehrere Hundert Millionen Euro in Russland und ironischerweise auch in der Ukraine investiert hatten.

Diese Fonds würden nun natürlich deutlich unterperformen und daher bald abgewickelt, neue Investitionen sind derzeit nicht geplant. Denn wegen der angespannten politischen Lage und der Ungewissheit wegen der Sanktionen und des Kriegs wolle aus Europa kaum mehr jemand in dieser Region investieren.

Generell bleibt mir aber der Eindruck, dass die Sanktionen selbst keine größeren Schmerzen im russischen Alltag hervorrufen.

Nicht die Sanktionen schmerzen, sondern der Rubelkurs
Eine Sache aber hat sich stark geändert: Der Rubelkurs ist selbst im Vergleich zum taumelnden Euro massiv abgestürzt, der niedrige Ölpreis war hierfür aber wohl genauso verantwortlich wie der Krieg, der wohl zum Teil auch durch Inflation finanziert wird. Dadurch sind Importwaren sehr teuer geworden, Reisen ins Ausland ebenso. Darunter leidet übrigens auch die Türkei, eines der Lieblingsurlaubsländer der Russen. So zahlt die Türkei russischen Touristen diesen Sommer sogar unter bestimmten Bedingungen den Rückflug.

"Die Preise für Baumaterialien steigen jeden Monat"
So hat auch meine Bekannte auf der Krim mit den stetig steigenden Preisen für Importgüter zu kämpfen: "Ich bin gerade dabei, die Wohnung auszubauen und muss dafür immer wieder Baumaterialien kaufen (Fenster etc.). Die guten Baumaterialien sind größtenteils Importgüter. Dabei muss ich mich sehr beeilen mit dem Kaufen, denn jeden Monat steigen die Preise. Man kann die Investition überhaupt nicht richtig planen, und sparen sowieso nicht."

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